Aus der Tiefe [2021]

Dateien und Beiträge

Konzerteinführung „Aus der Tiefe“

Georg Reutter der Jüngere war Hofkomponist am Kaiserhof in Wien, später auch erster Kapellmeister am Stephansdom. Einer der ihm unterstellten Sängerknaben war Joseph Haydn, den er offenbar selbst aus Hainburg/Donau rekrutiert hatte.
Kaiser Karl VI. erhob ihn in den Adelsstand und Maria Theresia ernannte ihn zum ersten Hofkapellmeister. Sein Schaffen ist immens, er schrieb Messen, Oratorien, Opern, Instrumentalmusik – insgesamt knapp 700 Werke. Bei der Bedeutung, die er zu Lebzeiten hatte, ist es schwer verständlich, dass er heute fast völlig vergessen ist. Selbst das eben gehörte „De profundis clamavi“ wurde lange Zeit Wolfgang Amadeus Mozart zugeschrieben, es hatte im Köchelverzeichnis die Nummer 93. Das verstehen wir als Nachweis seiner kompositorischen Qualität, und wir freuen uns sehr, dass wir Ihnen dieses Werk präsentieren können.

Erste Seite von Reutters „De profundis clamavi“ in einer auf 1757 datierten Handschrift – die wohl kaum vom damals einjährigen Mozart stammen dürfte …

Wir heißen Sie alle ganz herzlich willkommen zu unserer Abendmusik, die wir nach diesem Chorsatz von Georg Reutter benannt haben. Passend zur Jahreszeit und zum nahen Ende des Kirchenjahrs ist unser Programm vielleicht etwas düster mit Werken wie einem Bußpsalm und einer Totenmesse. Wir hoffen jedoch, Sie können die nächste Stunde dazu nutzen, etwas innezuhalten und an Menschen zu denken, die Ihnen jüngst – oder im Lauf der Zeit – verloren gegangen sind.
Wir widmen das Requiem den Opfern der Pandemie.
Nun wünschen wir Ihnen ein besinnliches Konzert und bitten Sie um Ihren Beifall am Schluss des Konzerts in Form einer Spende in das Körbchen, das wir Ihnen am Ausgang in den Weg stellen. Für diese Beifallsäußerung danken wir Ihnen schon jetzt ganz herzlich.
Unser ganz besonderer Dank gilt der Pfarrei St. Laurentius für ihre Gastfreundschaft!

Mann mit Goldhelm
Rembrandt (zwischen 1650 und 1660)

Katastrophische Ereignisse mit großen Verlusten wirken wie ein Memento Mori – im positiven Fall befördern sie die Wertschätzung des Bleibenden.
Wir Menschen hängen in unserem Bewusstsein von Dualismus und Polarität ab, d. h. unsere Wahrnehmung einer jeden Erscheinung gründet in der Existenz ihres konträren Gegensatzes.
In der Schöpfungsgeschichte begegnet Gott dem Chaos damit, die Erde vom Himmel zu scheiden, das Dunkel vom Licht, den Tag von der Nacht und das Land vom Meer.
Folgerichtig musste auch das Böse in die Welt kommen, um das Gute sichtbar zu machen, und ebenso folgerichtig heißt der Träger dieser Rolle des Bösen Lucifer, weil er Licht wirft auf das, was gut ist.
In der Malerei der Renaissance nennt man diesen Effekt „Chiaroscuro“. Sie kennen sicher Gemälde wir z. B. den Rembrandt unterschobenen Mann mit dem Goldhelm. Dieser Goldhelm glänzt und strahlt deshalb so unglaublich, weil die gesamte Szene außen herum und sogar das Gesicht fast völlig im Dunkel liegt.

Die Trennung von gut und böse wird wieder aufgenommen an jenem Tage, an dem der Weltenrichter die Schafe von den Böcken scheiden wird gemäß den Aufzeichnungen in seinem Buch.
Diese Vision findet früh Eingang in die Kunst, denken Sie an Hieronymus Bosch oder Van der Weyden, an Stefan Lochner oder Van Eyck, an Memling oder Ximénez, an Michelangelo oder Rubens. Fast scheint es, als hätten sie größere Fantasie entwickelt in der Ausgestaltung der Höllenstrafen, ganz so, wie bis heute Katastrophenmeldungen mehr Aufmerksamkeit zuteil wird.
Aber auch der tröstliche Anteil der ewigen Seligkeit wird beschworen, denn das ist der Grundgedanke der Totenmesse: Das Flehen der Lebenden für das Seelenheil der Verstorbenen – möglicherweise aber auch für das eigene …

Das Jüngste Gericht
Hans Memling (etwa 1466 bis 1473)
Rochus, neben Sebastian und Anna der populärste Pestheilige
Holzschnitt von Albrecht Dürer (ca. 1500)

So wird uns in den Texten des nun folgenden Requiems die ewige Verdammnis vor Augen gestellt, und die Bitte geäußert, den Verstorbenen möge stattdessen die ewige Ruhe zuteilwerden. Weil es einst dem Abraham und seinen Nachkommen so versprochen war, darauf wird mehrfach verwiesen.
Der in Valladolid geborene Komponist Ramiro Real hat das Bedrohliche wie das Tröstliche dieses Textes musikalisch überzeugend in Szene gesetzt.
Seine Formensprache ist durchsetzt von Rückgriffen auf das Mittelalter, seine Harmonik folgt weitgehend barocken Vorstellungen. 2015 wurde das Werk unter Leitung des Komponisten in der Kathedrale Saint-Jean in Besançon aufgeführt.
Aber auch die Kathedrale von Jakarta in Indonesien hörte das Werk für die Opfer des Tsunami von 2004. Wenn auch nicht von TonArt Kenzingen gesungen, wie man die Badische Zeitung unlängst hatte verstehen können. Heute also nun wirklich von TonArt Kenzingen in Sankt Laurentius Kenzingen im Gedenken an die Opfer der Corona-Pandemie.

Er war jung, dynamisch, erfolgreich, beliebt – aber auch listig, gerissen, ehrgeizig, skrupellos. Ein exzellenter Soldat mit dem Aussehen eines Filmstars – aber auch Schöngeist: Er spielte die Harfe (oder die Leier, je nach Übersetzung) und schrieb Gedichte. Er hatte also all das, was ihm die Frauenherzen zufliegen ließ (er war sozusagen der James Bond der späten Bronzezeit), und er machte quasi als Quereinsteiger eine Karriere, wie sie im Buche steht – in diesem Fall im Tanach, im 2. Buch Samuel.
Vom Hirtenjungen und Freibeuter aus Bethlehem zum König von Israel – als Nachfolger König Sauls stand David damit in Jerusalem auf der Höhe seiner Macht und seines Erfolgs, gewohnt, alles zu bekommen, oder sich alles zu nehmen.
Und das wurde ihm zum Verhängnis.

Eines Tages erblickt er vom Dach seines Palasts seine Nachbarin Batseba beim Bade und verliert augenblicklich den Verstand. Er lässt diese offenbar außerordentliche Schönheit zu sich rufen, ungeachtet der Tatsache, dass sie mit Uriah verheiratet ist, dem Chef seiner königlichen Garde, einem Hethiter, der gerade an der Front steht gegen die Ammoniter.

Die Schöne wird schwanger, und auf Ehebruch steht damals eigentlich die Todesstrafe, auch für Könige, wenn sich die Sache nicht vertuschen lässt. Naheliegende Lösung, auch heute noch gerne genommen: Das Modell „Kuckuckskind“. Uriah wird flugs nach Hause zurückbeordert, um sich ein Wochenende lang bei seinem Weibe zu erholen, aber aus Solidarität mit seinen Soldaten lehnt er das ab. Auch ein zweiter Versuch mit viel Alkohol scheitert an der Standhaftigkeit des Hethiters. Also muss er sterben, ein ausgeklügelter Plan lässt ihn an der Front den Tod finden. Der Weg ist damit frei für eine Heirat Davids mit Batseba, die im Laufe ihrer gemeinsamen Zeit immerhin zu seiner Lieblingsfrau (von insgesamt acht Frauen) avanciert.

Batseba erhält den Brief König Davids
Caspar Netscher (1667)
Der Prophet Nathan ermahnt König DavidRembrandt (17. Jh.)

Gott jedoch grollt, weil David in die Falle der Versuchung gegangen ist, und der neugeborene Sohn des Paares stirbt. Da David offenbar weder über Gewissen noch Schuldbewusstsein verfügt, bemüht sich Nathan – sie nannten ihn den „Propheten“, weil er einsichtsvoller, achtsamer und hellsichtiger war als die anderen – bemüht sich also Nathan erfolgreich darum, David zur Reue zu bewegen. Das Ergebnis ist ein ergreifender Bußpsalm Davids: „Chaneni Elohim“, vielleicht einer der schönsten Texte des gesamten Alten Testaments, als Psalm 51 hundertfach vertont im Lauf der Musikgeschichte. Auf lateinisch heißt er „Miserere mei, Deus“.
Er trägt die Überschrift: „Ein Psalm Davids, vorzusingen, als der Prophet Nathan zu ihm kam, nachdem er zu Batseba eingegangen war.“
73 Psalmen werden in ihrer Überschrift David zugeordnet, 12 den Söhnen Korachs und elf dem Leviten Asaph. Der Nachweis einer Urheberschaft ist mit dieser Zuordnung jedoch nicht verbunden. Die meisten Psalmen entstammen der Zeit des Zweiten Tempels, das Buch der Psalmen als Sammlung und Zusammenstellung entstand möglicherweise sogar erst in der Zeit der Makkabäer, also relativ kurz vor der Zeitenwende, rund 900 Jahre nach David.
Könige gab es zu der Zeit in Israel schon Jahrhunderte lang nicht mehr, die politische Macht lag in den Händen der Hohepriester, die Hellenisierung Jerusalems war in vollem Gang, Griechisch war zweite Umgangssprache.
Gleichwohl gilt David als Prototyp des Psalmisten und des Dichters. Im mittelalterlichen Hymnus „Dies Irae“ wird er gar zum Propheten und kündet zusammen mit der heidnischen Seherin Sibylla vom Nahen des Jüngsten Gerichts.

Aber zurück zu unserer Geschichte: Gott jedenfalls lenkt auf diese überzeugende Reue hin ein, dem Paar wird ein zweiter Sohn geschenkt, Salomo. Er führt als Nachfolger Davids mit geradezu legendärer Weisheit die Geschicke der vereinigten Königreiche Israel und Juda – nach den Erzählungen des Tanach jedenfalls sehr erfolgreich – weiter; wir lesen davon im Buch der Könige. Ihm ist es vergönnt, den ersten großen Tempel in Jerusalem zu bauen, der leider wenig später von den Babyloniern zerstört wurde. Dieses Tempel-Projekt hätte schon David gerne realisiert, es war ihm seiner Verfehlungen wegen jedoch verwehrt geblieben. Wie so oft, wenn Geschichte unter Schichten von Geschichten begraben wird, lässt sich eine belastbare Beweislage nicht mehr herausdestillieren. Ob Salomo und sein Vater als real existierende historische Personen gelten können, ist offenbar ungewiss. Zu spärlich sind die archäologischen Hinterlassenschaften der vorexilischen Zeit Israels, und es gibt so gut wie keine Erwähnungen in den Aufzeichnungen nichtjüdischer Reiche.

David verspricht Batseba, dass Salomo sein Nachfolger wird
Gerbrand van den Eeckhout (nach 1642)

Dies irae
Cheos, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons

Boaz Avni, israelischer Komponist, Arrangeur, Pianist und Schauspieler, hat sich eine zeitlang mit der Komposition klassischer geistlicher Musik beschäftigt, neben dem Schreiben von Musik für Filme wie „Mr. Baum“ oder „The gospel according to God – Das Evangelium nach Gott“.
Sein Stück heute ist allerdings nicht originär jüdisch: Lacrimosa ist ein Teil des mittelalterlichen Hymnus „Dies irae“ über das jüngste Gericht, seit dem Konzil von Trient fester Bestandteil der katholischen Totenmesse. Die Urheberschaft wird – nicht unumstritten – Thomas von Celano zugeschrieben, dem Freund und Autobiographen des heiligen Franz von Assisi.

Bitte übernehmen Sie hier die begleitenden Borduntöne, summen Sie sie einfach leise vor sich hin …

Die im Volksmund als „Rybovka“ bekannte Missa solemnis Festis Nativitatis Domini Jesu Christi accommodata in linguam bohemicam musicam – oder auch „Česká mše vánoční“ – genannte Böhmische Weihnachtsmesse ist das bekannteste Werk des Komponisten Jakub Šimon Jan Ryba.
Diese Messe entstand in Rožmitál pod Třemšínem (Rosenthal), wo seine Eltern wohnten, die „reich waren an weiser Gerechtigkeit, aber arm an materiellen Mitteln“, wie er selbst überlieferte. Diese Überlieferung übernahm er auch für sich selbst, er sprach zwar mehrere Sprachen und galt als der gelehrteste Kirchenmusiker seiner Tage, blieb aber mittellos, bei 13 Kindern ein nicht unerhebliches Problem. Andauernde Auseinandersetzungen mit Vorgesetzten taten ein Übriges, er setzte seinem Leben durch Freitod ein Ende. Sein Leichnam wurde am 10. April 1815 in einem Dickicht bei Voltuš aufgefunden. Zuvor hatte er ca. 1300 Kompositionen verfasst, außerdem vier Autobiografien und eine Abhandlung, mit der die Grundlagen der tschechischen Musikterminologie gelegt wurden.
Hierzulande ein völlig Unbekannter, wird seine Weihnachtsmesse doch alljährlich mit Hunderten von Mitwirkenden auf der Kampa-Insel und anderen Plätzen von Prag aufgeführt, sogar während der Zeit des kommunistischen Regimes, sogar in Bahnhofshallen. Nahezu jeder Tscheche kann das Werk auswendig mitsingen.
Seinen „Cursus Sacro-harmonicus“, dem das folgende Stück entstammt, widmete er der Stadt Pilsen, deren Ehrenbürger er war. Leider blieb dieses Meisterwerk der Empfindsamkeit durch den Freitod des Komponisten unvollendet.

Rybas Weihnachtsmesse auf der Kampa-Insel in Prag (2008)
Jkl.cz, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons
Grabsteine von Rabbi Meir von Rothenburg (links) und Alexander ben Salomo Wimpfen, jüdischer Friedhof Heiliger Sand, Worms (2012)
Dietrich Krieger, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons

Wir schließen unsere Abendmusik mit einem zentralen Gebet des Judentums, dem Kaddish. Es ist ein aramäisches Heiligungsgebet, das keineswegs nur mit Trauer und Tod assoziiert ist, obwohl es auch zum Totengedenken und am Grab gesprochen wird.
Wir widmen diesen Kaddish dem Gedenken aller Opfer der Shoah.

Bitte schließen Sie sich diesem Gedenken an und übernehmen Sie als Gemeinde das Amen immer dann, wenn vom Chor die Einladung kommt:
ve imru amen – sprecht: amen, oder
sh’mei d’kudsha b’rech hu – Gepriesen sei der Name des Herrn, gelobt sei er.

Lizenz Konzerteinführung „Aus der Tiefe“ © 2021 von TonArt Kenzingen ist lizensiert unter CC BY-NC-SA 4.0