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Konzerteinführung „Wurzel Jesse“

Laurent de La Hyre (1606–1656)
Zwar stehen die Weihnachtsbäume in den Wohnzimmern offiziell noch bis Lichtmess, aber dennoch:
Nein, ich will keine Weihnachtslieder mehr!
Damit ist das Motto unseres heutigen Konzerts umrissen. Es ist ein Konzert zum Themenkreis „Weihnachten“, dem wir uns aus ganz unterschiedlichen Richtungen annähern, ihn umkreisen, und dabei vielleicht spannende Entdeckungen machen. Dieser Themenkreis ist weit gespannt, er beginnt bei der Verkündigung am 25. März – 9 Monate vor Weihnachten –, und endet mit der Darstellung im Tempel an Mariä Lichtmess – am 2. Februar, 40 Tage nach Weihnachten.
Wir wollen Sie zur Sünde verführen: Denn wenn Sie von der Musik mehr angesprochen werden als vom Text, dann ist das eine Sünde, die der Buße bedarf – so schreibt Augustinus in seinen „Confessiones“.
Wir begrüßen Sie ganz herzlich, freuen uns, dass Sie da sind, und bitten Sie darum, Ihren Beifall bis zum Ende aufzusparen. Wie John Lennon das 1963 bei einem legendären Auftritt vor royalem Hause so nett formulierte: „Would the people in the cheaper seats clap your hands? And the rest of you, if you’ll just rattle your jewelry.“
Neun Monate vor Weihnachten:
Ein Erzengel „stürmt“ (das sehen Sie auf dem Gemälde von Tintoretto in unserem Programmheft) im wahrsten Sinne des Wortes Marias Schlafzimmer, auf den Lippen den so genannten „englischen Gruß“: Ave Maria, gratia plena …
Nein, kein Englisch, Latein, die ungeliebte Sprache der ungeliebten Besatzungsmacht.
Eine Achtzehnjährige unserer Tage hätte mit der ihr zur Verfügung stehenden Sprachgewalt vielleicht reagiert mit: Sprachlosigkeit. Maria hingegen in zierlichstem Latein: Qalis est iste salutatio? – Was für ein Gruß ist das denn?
Und dann dies: Sie ist auserwählt, gebenedeit, wird Gottes Sohn gebären.
Eine Achtzehnjährige unserer Tage hätte mit der ihr zur Verfügung stehenden Sprachgewalt vielleicht reagiert mit: Verständnislosigkeit.
Maria hingegen voller Anmut und voller Demut: Ich bin die Magd des Herrn, mir geschehe nach seinem Wort.

Jacopo Tintoretto (1518–1594)

Laurent de La Hyre (1606–1656)
Der Engel empfiehlt sich, und Maria begibt sich flugs zu ihrer schon etwas ältlichen Base Elisabeth; die galt als unfruchtbar und war trotz sehr fortgeschrittenen Alters schwanger mit Johannes, den sie dann den Täufer nannten. Mit seltener Hellsichtigkeit erkennt diese sofort Marias brandneuen Zustand und begrüßt sie – auch mit dem „englischen“ Gruß:
„Ave Maria, gratia plena …“
Und diesmal antwortet Maria mit einer Sprachgewalt, die man einer heutigen Achtzehnjährigen kaum mehr zutrauen darf: Magnificat anima mea dominum – meine Seele erhebt den Herrn:
eines der drei Cantica des Lukas-Evangeliums, und einer der ganz großen lyrischen Höhepunkte dieses Buchs.
Das zeigt immerhin, dass Maria einigermaßen schriftkundig war, das Buch Samuel und den Lobgesang der Hannah, der Mutter Samuels, gelesen hatte – falls sie tatsächlich lesen konnte.
Auch Hannah galt als unfruchtbar, gebar ihren Sohn in späten Jahren und pries diesen Umstand mit Worten, die dem „Magnificat“ des Lukas-Evangeliums gleichen wie ein Zwilling dem anderen.
Bei Licht betrachtet ist es wahrscheinlich der erste feministische Text der Literaturgeschichte.
Hier spricht eine starke Frau, die den „Herrn“ in die Pflicht nimmt, die Erwartungen formuliert, weil er ihr Hoffnung gemacht hat – im wahrlich doppelten Sinne des Wortes.
Denn Maria (oder Hannah) beschreibt nicht, was ist, sondern was sie fordert. Das Magnificat ist ein flammendes Manifest der ausgleichenden sozialen Umverteilung und der Gleichberechtigung.
Vielleicht hätte sie Martin Luther King zitiert, wenn sie ihn gekannt hätte: „I have a dream“…
Es ist Advent. Zwar hielt sich auch der heilige Geist an die üblichen 9 Monate guter Hoffnung für Maria, aber das Christenvolk verkürzte die Zeit der Erwartung im 7. Jahrhundert kurzerhand auf 4 Wochen. Das musste reichen für die Vorbereitung auf das große Fest. Ein Grund für die Verkürzung war möglicherweise die Tatsache, dass der Advent bei seiner Einführung Mitte des
Jahrhunderts eine Fastenzeit war. Das befördert natürlich die Erwartungshaltung, konnte sich langfristig jedoch nicht durchsetzen. Noch zu Beginn des 11. Jahrhunderts wurde im Straßburger Adventsstreit erbittert darüber verhandelt, wie die Adventszeit zu gestalten sei, und schließlich beschloss eine Synode im Kloster Limburg am 3. Dezember 1038 in Anwesenheit des Salierkaisers Konrad II. die heute gültige Regelung. Sie wurde erst 500 Jahre später vom Konzil von Trient bestätigt und 1570 durch Pius V. kodifiziert.
Die orthodoxen Kirchen feiern den Advent noch über 6 Wochen – bei moderatem Fasten.

Bartolomeo Passarotti (1529–1592)

Mosaik aus dem 3. Jahrhundert im Grab der Julier unter dem Petersdom
Und dann ist es so weit: Weihnachten, die Geburt des Herrn.
Dass es der 25. Dezember wurde – auch das ist das Ergebnis längerer Auseinandersetzung.
Zwischen dem 18. November und dem 20. Mai war vieles im Angebot, und leider war in den Evangelien nirgendwo ein Datum benannt. Die dort versuchte „historische“ Einordnung anhand einer augustinischen Steuererhebung, oder die Nennung des syrischen Stadthalters Quirinius bis hin zum Kindermord in Bethlehem unter König Herodes ist nicht haltbar. Manche dieser Angaben zeigen eher die Bemühung, die Geburt des Messias vom galiläischen Nazareth nach Juda in eine Stadt Davids zu verorten und so der Prophezeiung des Micha aus dem 8. vorchristlichen Jahrhundert zu entsprechen:
Und du, Bethlehem Ephrata, bist mitnichten die kleinste unter den Städten in Juda …
Diese Textstelle kannte wahrscheinlich jeder Jude, verhieß sie doch das Kommen des sehnlichst erwarteten Messias.
Es gab zwei Möglichkeiten einer Terminfindung: Die Berechnung vorwärts von der Empfängnis, oder die Berechnung rückwärts von der Kreuzigung. Beides legt als Starttag für die Berechnungen den 25. März fest (damals „zufällig“ das Frühlings-Äquinoktium). So zu finden in der Weltchronik des Sextus Julius Africanus (um 200 n. Chr.).
Oder aber es lassen sich historische Gründe für das Datum ausmachen: Kaiser Aurelian legte im Jahr 274 den Geburtstag des Staatsgottes Sol Invictus auf den 25. Dezember (im julianischen Kalender „zufällig“ die Wintersonnenwende). Dazu und auch zum nordischen Julfest musste man in Konkurrenz treten – in der Hoffnung, diese heidnischen Riten aus dem Bewusstsein der Völker zu verdrängen. Laut der Heimskringlasaga von 1230 soll allerdings erst Håkon der Gute in der Mitte des 10. Jahrhundert Weihnachten und Julfest zusammengeführt haben.
Aber wer war das eigentlich, der da geboren wurde? Josef, der Zimmermann aus Nazareth, hatte in dieser Hinsicht so seine Zweifel. Wieder war ein Engel zur Stelle, er befahl ihm, Maria trotzdem zur Frau und Jesus an Kindes statt anzunehmen.
Schon einmal stand übrigens ein Josef an einer historischen „Schnittstelle“:Josef wird von seinen Brüdern nach Ägypten verkauft
Der Sohn Jakobs und Rahels (auch eine unfruchtbare Frau, die ihren Sohn auf wunderbare Weise in späten Jahren gebiert) markiert den Beginn der Geschichte Israels, denn Gott hatte Jakob auf dessen Flucht vor seinem Bruder Esau den Namen „Israel“ gegeben.
Rahel starb bei der Geburt von Benjamin, dem elften und letztgeborenen Sohn; sie wurde bei Ephrata begraben. Dennoch hat Israel 12 Stämme, obwohl Jakob „nur“ 11 Söhne hatte: Bei eben diesem Sohn Josef teilt sich dessen Linie in die beiden Nachkommen Manasse und Ephraim. Überhaupt hat dieser Josef eine ungemein spannende Biografie, die sich zu lesen lohnt. Entweder im Buch Genesis, oder in Thomas Manns Roman-Tetralogie „Josef und seine Brüder“. Letztere wohl angeregt durch Goethes Anmerkung in seiner Autobiographie „Dichtung und Wahrheit“: „Höchst anmutig ist diese natürliche Erzählung, nur erscheint sie zu kurz, und man fühlt sich berufen, sie ins einzelne auszumalen.“ Zu kurz ist sie bei Thomas Mann wahrlich nicht mehr …
Josef der Zimmermann ermöglicht mit seiner großzügigen Bereitschaft sozusagen den Beginn der Geschichte des Christentums und steht damit – wie sein Namensvetter – an einer entscheidenden Wende. Und auch ihn verschlug es – wie seinen Namensvetter – nach Ägypten.

Herrad von Landsberg (1130–1195)

Auszug des Hochaltars in der Filial- und Wallfahrtskirche St. Ottilia, Hörmanshofen (Gem. Biessenhofen) (um 1500)
Herbert Wittmann – CC-BY-SA-3.0, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons
Ein Problem gab es noch: Laut den Prophezeiungen des Jesajah musste der Messias aus königlichem Geblüt sein, aus Davids Stamm. Und dies nun galt es zu beweisen. Sowohl im Lukas- als auch im Matthäusevangelium finden wir eine Art Stammbaum Jesu, ikonografisch oft als die „Wurzel Jesse“ dargestellt. Die Quellen für diese beiden Listen sind unklar, sie unterscheiden sich nicht unerheblich: Matthäus nennt 41 Namen, Lukas nennt 56, das sind 4 mal 14 Generationen.
Josquin des Prez vertont in seinem „Liber Generationis“ den kürzeren Text von Matthäus. Überlassen Sie sich der fast magischen Trance dieser langen Folge von fast unbekannten Namen.
Interessant am Rande: Bei Matthäus heißt der Vater auch Josefs des Zimmermanns Jakob (wie schon der seines Namensvetters), bei Lukas hingegen heißt er Levi.
Die so genannte „Leviratsehe“ (der Bruder eines ohne Söhne verstorbenen Mannes heiratet dessen Witwe) war ein gerne genutzter Kunstgriff, um Abstammungslinien anzupassen.
Gleichwohl‚ hat das Wort nichts mit dem Namen Levi zu tun, sondern mit dem lateinischen „levir“ für Schwager.
Wie auch immer: Beide Evangelisten führen die Herkunft Jesu über Josef auf Jesse (oder Isai) zurück, den Vater König Davids. Und beide Stammbäume beruhen daher ganz selbstverständlich darauf, dass Josef der leibliche Vater Jesu war.
„Und da acht Tage um waren, daß das Kind beschnitten würde, da ward sein Name genannt Jesus, welcher genannt war von dem Engel, ehe denn er im Mutterleibe empfangen ward.“
Die Beschneidung Jesu gilt als Beweis seines wahren Menschseins, jedoch blieb er Gott:
O admirabile commercium – o mirabile mysterium.
Lukas hält sich strikt an den in der Thora vorgeschriebenen Ablauf für erstgeborene Söhne, basierend auf den Regeln im Buch Levitikus.
„Und als die (40) Tage ihrer Reinigung nach dem Gesetz des Mose um waren, brachten sie ihn hinauf nach Jerusalem, um ihn dem Herrn darzustellen, wie geschrieben steht im Gesetz des Herrn: »Alles Männliche, das zuerst den Mutterschoß durchbricht, soll dem Herrn geheiligt heißen«, und um das Opfer darzubringen, wie es gesagt ist im Gesetz des Herrn:
»ein Paar Turteltauben oder zwei junge Tauben«.
Die zwei Turteltauben sind nach Levitikus übrigens der Tarif für die ärmere Bevölkerung. Reiche Leute zahlen ein Schaf und eine Taube.
Ebenfalls bei Levitikus lesen wir, dass nach der Geburt eines Mädchens gar 80 Tage der Reinigung fällig sind. Wäre Jesus also ein Mädchen geworden, müsste unser Weihnachtsbaum durchhalten bis zum 13. März …
Am 2. Februar unseres Kalenders also geschieht es, dass der greise Simeon im Tempel in dem Kind den erwarteten Messias erkennt und die Erfüllung der Verheißung. Nun kann er in Frieden sterben, denn der Legende nach musste er damit bis zur Ankunft des Erlösers warten.
Der Lobgesang des Simeon, das zweite große Canticum des Lukasevangeliums, ist ein weiterer lyrischer Höhepunkt der Evangelien, und hat es in der Fassung Luthers „Mit Fried und Freud ich fahr dahin“ auch in den Bestand des kirchlichen Liedguts geschafft.
Das dritte Canticum bei Lukas ist übrigens das „Benedictus“, der Lobgesang des Zacharias, des Vaters von Johannes dem Täufer …
Und weil das Fest der Beschneidung am Ende der Weihnachts-Oktav „zufällig“ mit der Jahreswende zusammentrifft, würdigen wir auch diesen Aspekt.

Andrea Mantegna (1431–1506)
Mit diesem letzten musikalischen Block entlassen wir Sie in den Abend und hoffen, unsere Spurensuche rund um Weihnachten hat auch Ihnen das eine oder andere Neue beschert. Wir danken für Ihr Interesse an unserem Programm ebenso wie für Ihre Spende am Ausgang für unsere weiteren musikalischen Entdeckungsreisen.