Romantik – schaurig schön [2025]

Dateien und Beiträge

Konzerteinführung „Romantik – schaurig schön“


wir kamen auf die neuesten französischen Dichter und auf die Bedeutung von klassisch und romantisch. »Mir ist ein neuer Ausdruck eingefallen, der das Verhältnis nicht übel bezeichnet«, sagte er. »Das Klassische nenne ich das Gesunde, und das Romantische das Kranke. Und da sind die Nibelungen klassisch wie der Homer, denn beide sind gesund und tüchtig. Das meiste Neuere ist nicht romantisch, weil es neu, sondern weil es schwach, kränklich und krank ist, und das Alte ist nicht klassisch, weil es alt, sondern weil es stark, frisch, froh und gesund ist. Wenn wir nach solchen Qualitäten Klassisches und Romantisches unterscheiden, so werden wir bald im reinen sein.«

Johann Peter Eckermann
Johann Joseph Schmeller (1794–1841)

Mit dieser (toll)kühnen Kampfthese wird kein Geringerer zitiert als unser aller Geheimrat Johann Wolfgang von Goethe, und zwar von Johann Peter Eckermann in den Aufzeichnungen, die dieser von einem Gespräch mit Goethe vom 2. April 1829 gemacht hatte – was diese These übrigens nicht besser macht.

Was aber war denn nun das „Neue, Schwache, Kränkliche“, das dem Geheimrat so suspekt schien?

Schnitter Tod
Walter Crane (1845–1915)

Kulturgeschichte ist ein stetig mehr oder weniger weit ausschwingendes Pendel von Reaktion und Gegenreaktion, von Fortentwicklung und Überwindung, These und Antithese. War es dann nach Rationalismus, Aufklärung und Wissenschaftsboom nicht zu erwarten, dass die andere Seite wieder die Oberhand gewinnt? Im Übersprung des unmittelbar Vorausgegangenen erfahren nun wieder die Mythen des Mittelalters, die Mystik des Barock, Volksgut und Idylle eine starke Hinwendung. Die Abkehr im Schlegelschen Sinne von klassischen Vorbildern führt zur Auflösung von deren Formen, 
zur Bevorzugung des gefühlvollen Ausdrucks, und in der Musik schließlich zur Ausweitung und Überschreitung traditioneller hamonischer Vorstellungen. 
Das orchestrale Instrumentarium wurde ständig und zügig erweitert, 
um „überwältigende“ oder auch „jenseitige“ Effekte zu ermöglichen.

Subjektivität, Spontaneität, Individualismus, Emotionen in jeder Richtung, Sehnsucht: Das sind die Kennzeichen der neuen Zeit, die Goethe so fremd waren.

Jede Nation hatte hier ihr eigenen Sehnsuchtsorte. In Deutschland waren dies beispielsweise der Wald, die See, die Geschichte, Volkspoesie wie Grimms Märchen oder Liedersammlungen wie „Des Knaben Wunderhorn“, die Natur an sich, Arkadien, wie schon in der frühen Neuzeit.

Das zentrale Symbol deutscher Romantik entstammt einem Traum des jungen Heinrich von Ofterdingen aus dem gleichnamigem Romanfragment Friedrich von Hardenbergs – besser bekannt unter seinem Pseudonym „Novalis“.

Dieses posthum 1802 – 30 Jahre vor Goethes Tod – von Schlegel veröffentlichte Fragment war eine recht direkte Antwort auf Goethes „Wilhelm Meister“, 
auf das darin propagierte Frauenbild, eine Gegenüberstellung und Weiterentwicklung der Protagonisten und der Rolle der weiblichen Figuren – allen voran der Mutter.

Dem pragmatisch-bürgerlichen Bildungsideal Goethes wird ein poetisch-romantisches entgegengehalten, vereinfacht ausgedrückt: 

Goethe zeigt, wie man wird, was man ist.
Novalis hingegen, wie man wird, was man träumt.


Das erwähnte Symbol ist eine blaue Blume, die Heinrich fortan in diesem Entwicklungsroman begleiten wird – in seinen Träumen.
Die blaue Blume steht für Sehnsucht, Liebe, Streben nach dem Unendlichen, Ferne und Wanderschaft, aber auch Unerreichbarkeit.

Anlässlich des Todes von Sophie von Kühn, der Verlobten von Novalis, schenkte ihm sein enger Freund, der Maler Friedrich Schwedenstein, ein leider nicht erhaltenes Aquarell mit vertrockneten blauen Kornblumen. In Heinrichs Traum schwebt in der Mitte der Blume ein Mädchengesicht – wohl Sophies. 
Deren früher Tod mit 15 Jahren hatte Novalis sehr getroffen, waren sie doch zu dem Zeitpunkt bereits fast drei Jahre verlobt.
Diese Trauer gebar die berühmte „Blaue Blume der Romantik“.
Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.“, schrieb die Schriftstellerin und promovierte Historikerin Ricarda Huch 1899 in ihrem Werk „Blütezeit der Romantik“.

Nicht von ungefähr spielen Blumen – nicht nur blaue – auch im Liedgut immer wieder eine große Rolle, stets bedroht, gepflückt zu werden, zu erfrieren, dem Schnitter Tod zum Opfer zu fallen. Und stets stehen die Blumen für „Mädchen“ oder „Liebe“ – auch in unserem Programm.

Die blaue Blume
Fritz von Wille (1860–1941)
Hünengrab im Schnee
Caspar David Friedrich (1774–1840)

Der Wald als deutscher Sehnsuchtsort rückte in Ludwig Tiecks Roman „Der blonde Eckbert“ erstmals mit dem Begriff „Waldeinsamkeit“ in den Mittelpunkt romantischer Aufmerksamkeit. Diese schwärmerische Begeisterung für den Wald fällt gerade in eine Zeit, in der durch die steigende wirtschaftliche Nutzung des Waldes für die industrielle Revolution die deutsche Waldfläche sich rasant verkleinerte.

Unzählige Bilder, Gedichte und Lieder handeln vom Wald, der sein vorausgegangenes Schreckensszenario als Heimat von Geistern, Dämonen, Kobolden und natürlich auch Räubern und Diebesbanden weitgehend verloren hatte. Die ersehnte Unberührtheit und Ursprünglichkeit der Natur spiegelt sich nicht zuletzt in vielen idealisierten Gemälden von Deutschlands berühmtestem romantischem Maler Caspar David Friedrich.

Geschichte und Vergangenheit als Sehnsuchtsorte reflektieren ein wenig die Vorstellung, dass früher alles besser war – auch damals schon.
Gemälde, Lyrik und Musik sind bevölkert von Schlössern Kloster- und Burgruinen, von Königen und Rittern, von sagenhaften Helden und uralten Geschichten. 
Richard Wagners Schaffen etwa handelt von Nibelungen, Schwanenrittern, König Artus, von Wolframs Parzival bis hin zum letzten römischen Volkstribun Cola di Rienzo. 

Barbarossa, Jesus, Luther oder Achilles hatten es nur ins Entwurfsstadium gebracht und wurden nie von Wagner vollends realisiert. Faust blieb Ouvertüre …

Wir singen heute von alten Königen und von jungen Königskindern, aber auch von zaubermächtigen Hexen in der Walpurgisnacht, von Blumen, Wald und Natur, und wir begrüßen Sie ganz herzlich zu dieser Entdeckungsreise, heute durch all die unterschiedlichen Szenarien romantischer Kunst und Empfindung in der mehrstimmigen Vokalmusik. Wir setzen einen Rahmen und einen Mittelpunkt mit geistlicher Musik von Mendelssohn und Brahms, und füllen die Strecken dazwischen mit allen möglichen Szenen von Wald, Königen, Naturschauspielen und Volksglauben. Teilweise auch mit Kompositionen von lange unterschätzten Frauen aus dieser Zeit, wie etwa Fanny Hensel, der Schwester von Felix Mendelssohn, oder Clara Schumann, der Ehefrau Robert Schumanns und innigst geliebten Vertrauten von Johannes Brahms. Beide Frauen spielten eine durchaus maßgebliche Rolle in der Klaviermusik jener Zeit – als konzertierende Virtuosinnen wie als Komponistinnen.

König von Thule
Pierre Jean Van der Ouderaa (1841–1915)
Bildnis des Dichters Friedrich Rückert
Bertha Froriep (1833–1920)

Friedrich Rückert, nicht nur ein ganz großer Poet der Romantik, sondern auch Begründer der deutschen Orientalistik (er sprach über 40 orientalische Sprachen), hat eine kleine Geschichte des Maulana Rumi, des wohl berühmtesten Sufi-Poeten des persischen Mittelalters, ins Deutsche übertragen:


Einstmals sprach unser Herr Dschalal ad-Din dieses:

»Die Musik ist das Knarren der Pforten des Paradieses!«

Darauf sprach einer von den dumm-dreisten Narren:

»Nicht gefällt mir von Pforten das Knarren!«

Sprach unser Herr Dschalal ad-Din drauf:

»Ich höre die Pforten, sie tun sich auf;

aber wie die Türen sich tun zu,

das hörest du!«

Treten Sie also ein durch diese sich öffnenden Pforten, genießen Sie das Paradies. Und wie immer bei TonArt Kenzingen bitten wir Sie dann am Ausgang um eine Spende für den Fortgang unserer musikalischen Arbeit – wer weiß, durch welche Pforten uns diese noch führen wird. Wir danken für Ihren Besuch ebenso wie für Ihre Großzügigkeit, und hoffen, Sie haben eine zutiefst romantische Konzerterfahrung. Auf Ihren Beifall freuen wir uns am Ende des Programms – dann umso mehr.

Wenn Sie Interesse an unserer Arbeit haben oder per Newsletter auf dem Laufenden bleiben wollen, folgen Sie dem QR-Code auf der Rückseite Ihres Programmhefts.

Wir danken ebenso der uns beherbergenden Kirchengemeinde für die Überlassung der Kirche als Konzertort.

Franz Schuberts Freunde Franz von Schober und Joseph von Spaun waren in ihren Residenzen Veranstalter der ersten Schubertiaden zu Lebzeiten und unter Mitwirkung des Komponisten. Ihnen hatte er seinen letzten großen Liederzyklus mit dem Titel „Winterreise“ als einen „Kreis schauriger Lieder“ angekündigt und war bei der Erstaufführung (er spielte und sang selbst) prompt damit durchgefallen. Außer dem „Lindenbaum“ gefiel keines der 24 Lieder. Und der Lindenbaum wurde – gerade auch in der Chorfassung von Friedrich Silcher – ebenso prompt zum möglicherweise bekanntesten romantischen Volkslied.

Nun spielt ja der Begriff „schaurig“ in der deutschen Romantik eine ganz zentrale Rolle, da er das Spannungsfeld zwischen Faszination und Angst ausdrückt. „Schaurig“ beschreibt nicht bloß etwas Furchterregendes, sondern oft eine unheimliche, geheimnisvolle Stimmung, die zugleich anziehend wirkt. Besonders in der sogenannten „schwarzen“ Romantik ist das Schaurige ein Mittel, um die dunklen Seiten der menschlichen Psyche, das Unbewusste und das Übersinnliche zu erkunden. Es verweist auf eine Welt jenseits der rationalen Wirklichkeit, in der Träume, Wahnsinn und das Unheimliche miteinander verschmelzen, so zum Beispiel in „Die Elixiere des Teufels“ oder „Der Sandmann“ von E.T.A. Hoffmann, den „Nachtwachen von Bonaventura“ von August Klingemann.

Schubertiade
Julius Schmid (1854–1935)

Mögen uns allen heute Schauer der Kategorie „wohlig“ beschieden sein.

„Nur die Russen“, sagte der Blaue Reiter Wassily Kandinsky, „verstehen die romantische Seele der Deutschen“.
Sehen wir, ob nicht doch auch wir Deutschen selbst sie verstehen.

Kunst als Religion

Kreuz im Gebirge
Caspar David Friedrich (1774–1840)

Auch die Religion wurde im Zuge der Romantik zum Sehnsuchtsort, erfuhr eine Neubewertung, vielleicht nicht überraschend nach Aufklärung und Relgionskritik. Allerdings ging es nicht um Frömmigkeit im herkömmlichen Sinne, eher um eine Religion der Kunst. Ein bekanntes Beispiel in der Malerei ist Caspar David Friedrichs „Kreuz im Gebirge“ für die Schlosskapelle des Grafen Thun-Hohenstein im böhmischen Děčín.
Ludwig Tieck und Wilhelm Heinrich Wackenroder veröffentlichten 1796 eine Reihe kunsttheoretischer Aufsätze unter dem Titel „Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders“, in denen ihrer Ansicht nach nur in der Kunst Religion erlebbar wird, gar selbst zur Religion wird, ihr Genuss zum Gebet. Kunst als das neue Erlösungsmittel.

„Es war eine Phantasie-Religion oder Religion der Phantasie, nicht eigentlich die christliche“, schreibt der Philosoph Rüdiger Safranski in seinem Buch „Romantik“ im Blick auch auf Novalis, der eine Verbindung von Fantasie und Religion beschwor, um Aufklärung, Rationalismus und Wissenschaftsgläubigkeit etwas entgegenzusetzen.

Die Poesie war für ihn das Mittel dazu, dem Endlichen den „Schein der Unendlichkeit“ zu geben. Es gelte der „Vertrocknung des heiligen Sinns“ entgegenzuwirken, schrieb Novalis 1799 in seinem Essay 
„Die Christenheit und Europa“.

Im selben Jahr lieferte der evangelische Theologe Friedrich Schleiermacher die theologische Unterfütterung dazu in seinem Aufsatz 
„Über die Religion – an die Gebildeten unter ihren Verächtern“. 
Er bot eine gefühlige Sicht auf die Religion, die den Romantikern die Anknüpfung leicht machte. „Religion ist Sinn und Geschmack für das Unendliche“, Begriffe wie Sünde, Auferstehung oder Erlösung waren unbedeutend. 
Die Amtskirche war entsetzt, man spottete über „Gefühlstheologie“ und „Kulturprotestantismus“ …
„Der nackten Wahrheit Schleier machen, / 
Ist kluger Theologen Amt,
 / Und Schleiermacher sind bei so bewandten Sachen / 
Die Meister der Dogmatik insgesamt.“ – reimte August Wilhelm Schlegel 1846.

Einer der wenigen Katholiken unter den Dichtern der Romantik saß über Jahre hinweg am Bett einer jungen Nonne, deren Stigmata an die Wundmale Jesu erinnerten und zuweilen bluteten. Die Nonne, Anna Katharina Emmerick aus Dülmen, hat Visionen vom Leben und Leiden Christi, Clemens Brentano zeichnet sie alle auf, bis zum Tod Anna Katharinas.

Jahre später wird er „Das bittere Leiden unseres Herrn Jesu Christi“ veröffentlichen, das sicherlich exaltierteste religiös-poetische Projekt der Romantik. Brentano war überzeugt, eine neue Evangelistin begleitet zu haben.

Neben dem vom Antisemiten Richard Wagner massiv angefeindeten Juden Mendelssohn (bei dessen Ideen und Motiven Wagner sich dennoch ausgiebig bedient hat) und dem Lutheraner Brahms haben wir mit Schubert auch einen Katholiken im Programm, der sich als Früh-Romantiker nicht nur mit seiner „Unvollendeten“ unsterblich gemacht hat, sondern auch mit der schlichten Innigkeit etwa seiner Deutschen Messe – oder des hier vorgestellten „Salve Regina“. Das steht im völligen Gegensatz zur an Bach orientierten kontrapunktischen Meisterschaft von Brahms in der darauf folgenden Motette. Auch Mendelssohn war ungemein inspiriert von Bach und zeigt in vielen Kompositionen dessen Einfluss und Ideenwelt.

Anna Katharina Emmerick
Zeichnung von Clemens Brentano (1778–1842)
Saintambroise, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons

Sie werden feststellen, dass die geistliche Musik unseres Programms tatsächlich völlig andere Strukturen hat als die weltliche …

Lizenz Konzerteinführung „Romantik – schaurig schön“ © 2025 von TonArt Kenzingen ist lizensiert unter CC BY-NC-SA 4.0