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- BZ-Plus „Rechtes Gedankengut entlarven“ [BZ, 12.11.2018]
- BZ-Plus „Wir waren thematisch vorbereitet“ [BZ, 02.02.2018]
- BZ-Plus Eine Reise durch die jüdische Musik [BZ, 28.06.2018]
Konzerteinführung „מלכים – Melakhim – Könige“
Was denken Sie, meine sehr geehrten Damen und Herren: Hat König Charles irgendwann mal in seinem Leben Liebesgedichte verfasst? Schon vorstellbar, aber wir werden es vielleicht nie erfahren. Falls ja, was denken Sie:
Wird das im 51. Jahrhundert, also in 3.000 Jahren noch jemand lesen?
Ganz im Gegensatz dazu sind die glühenden Liebesgedichte von König Salomo trotz ihres Alters von ca. 3.000 Jahren durchaus noch im Bewusstsein heutiger Menschen, haben sie es doch – warum auch immer – in den Kanon des Tanach und damit des Alten Testaments geschafft. Wie auch die Psalmen seines Vaters.
Die Psalmen Davids und das Hohelied Salomos – Shir haShirim, das Lied der Lieder – haben ihre Urheber um Jahrtausende überdauert. Wenn diese denn wirklich die Urheber waren.
Wer auch immer sie verfasst hat – wir müssen anerkennen, dass wir es in beiden Fällen mit allerhöchster literarischer und lyrischer Qualität zu tun haben. Was wiederum erklärt, warum sich eine schier unüberschaubare Anzahl von Komponisten quer durch die Zeiten dieser Texte angenommen hat.
TonArt Kenzingen hat für Sie eine Auswahl an Musik zu diesem Themenkreis zusammengestellt, und wir begrüßen Sie ganz herzlich zu unserem Konzert mit Psalmen, Hohelied-Vertonungen, liturgischen Texten der Synagoge und mit ein paar jiddischen Liedern aus dem galizischen Schtedtl.
Unsere Auseinandersetzung mit diesem anfangs auch für uns völlig fremden Genre hat einiges ausgelöst an Forschungs- und Lerneifer und dabei viel mehr zu Tage gefördert, als man je in einem Konzertprogramm von 90 Minuten unterbringen könnte. Ich hoffe, Sie gewinnen dennoch einen überzeugenden Einblick.

Georg Braun und Franz Hogenberg (1575)
Wir haben unser Konzert begonnen mit dem wichtigsten jüdischen Komponisten des italienischen Frühbarock, Salomone Rossi, genannt Hebreo – der Jude. Er war als Sänger, Geiger und Kapellmeister am Hof Vincenzo Gonzagas in Mantova angestellt, wo er sich allergrößter Wertschätzung erfreute. Das tolerante Klima im Herzogtum Mantova unter den Gonzagas machte eine solche Anstellung möglich. Auch Rossis Schwester Europa war als Sängerin dort hoch angesehen. Zu jener Zeit gab es neun Synagogen allein in Mantova.
Salomone muss ein innovativer Geist gewesen sein: Einerseits wird ihm die „Erfindung“ der barocken Triosonate zugeschrieben, andererseits war er der erste, der mehrstimmig-polyphone Musik in hebräischer Sprache schrieb, zum Gebrauch in der Synagoge an besonderen Festtagen.
Damit bezog er öffentlich Stellung in der Kontroverse gegen das orthodoxe Verbot mehrstimmiger Musik in der Synagoge. Die Rabbiner der jüdischen Diaspora hatten im Gedenken an die Zerstörung des Tempels in Jerusalem Musik und Instrumente untersagt, nur biblische Kantillation war erlaubt.
Hinsichtlich seiner synagogalen Musik ist Rossi im Gegensatz zu seiner sehr modernen Instrumentalmusik allerdings viel konservativer, was auch mit der Schwierigkeit der Vertonung der hebräischen Sprache zusammenhängt, dafür gab es bis dahin keine Vorbilder. Dies stellte ihn (und uns) nämlich vor die spannende Frage, wie man Musik, die von links nach rechts gelesen wird, mit Text verbindet, der von rechts nach links geschrieben ist.
Außerdem schreiben semitische Sprachen keine Vokale, melismatische Melodienbildungen basieren jedoch ausschließlich auf Vokalen.
Zum Beispiel der Beginn unseres Konzerts: Das Wort Keter, Krone, besteht nur aus den Konsonanten Kaph (כ), Taw (ת) und Resch (ר). Und die schreibt Rossi als Wort ganz an’s rechte Ende der Phrase, für die tatsächliche Textverteilung ist dann der Interpret zuständig. Das ist manchmal knifflig, manchmal einfach.
Rossi war ein Grenzgänger zwischen italienischer Avantgarde (zu der er als Komponist gehörte) und jüdischer Tradition.
Seine Sammlung geistlicher Musik nannte er in Anlehnung an das Hohelied Hashirim asher liShlomo – Lieder Salomos. Jedoch nicht eine einzige Zeile des Hohelieds ist darin vertont. Der Titel ist viel eher die Anspielung auf seinen eigenen Namen.

Rossis Spuren verlieren sich nach 1628. Die österreichische Invasion während des Mantuanischen Erbfolgekriegs brachte erhebliche antisemitische Ausschreitungen mit sich, und die Pest brach aus. Das Haus Habsburg war im eher aufgeklärten Umfeld Europas ganz erstaunlich antijüdisch.
Lange war Rossi vergessen, erst das späte 20. Jahrhundert begann allmählich, wieder von ihm Notiz zu nehmen – und stellt ihn mit Monteverdi auf eine Stufe.
Wir hätten Ihnen gerne die Gelegenheit zu einem direkten Vergleich geboten. Aber Corona hat einen unserer Mitsänger in’s Bett gezwungen, und wir können das Stück nun nicht besetzen. „Lauda Jerusalem“ muss leider entfallen.

Das zu Beginn gehörte Stück, die Vertonung einer Kedusha für den Mussaf, entspricht in Teilen dem „Sanctus“ im christlichen Ritus. Rossi hat nur die ungeraden Verse davon vierstimmig komponiert, die dazwischen liegenden geraden Verse werden im liturgischen Gebrauch vom Kantor quasi psalmodierend rezitiert – eine Form, die er von der katholischen Kirchenmusik jener Zeit übernommen hat.
Diese „große“ Kedusha beinhaltet den Anfang des Shema Israel, des zentralen jüdischen Bekenntnisses zum Monotheismus. Im sephardischen Ritus (der damals in Italien vorherrschte) müssen die Gebetsriemen abgelegt werden, bevor die Keter-Kedusha angestimmt wird, weil man nicht die Krone Gottes besingen und dabei selbst eine Krone auf dem Kopf tragen kann. Der Kopfteil der Gebetsriemen (tefillin schel rosch) repräsentiert diese Krone.
Die symbolische Deutung in der jüdischen Kabbala verweist auf die Krone als oberste Sphäre von den zehn Sephirot im kabbalistischen Lebensbaum.
Sie ist das Ziel der spirituellen Suche und der Ausgangspunkt alles Geistigen, etwas, das sich jedem menschlichen Begreifen vollständig entzieht …
Hören Sie jetzt von Rossi die Psalmen 80 und 128 sowie einen Segensspruch.
Mene Tekel Upharsim – jene geheimnisvolle Flammenschrift an der Wand des Palasts zu Babylon, die den Untergang des Großreichs prophezeite, kennen wir aus Heinrich Heines berühmter Ballade, aus Rembrandts kolossalem Gemälde in der National Gallery oder aus Händels Oratorium „Belsazar“, all dies basierend auf Erzählungen aus dem 5. Buch Daniel.
Belsazar schändete die geweihten Kultgeräte, die Nebukadnezar bei der Zerstörung des Tempels in Jerusalem erbeutet hatte, verlangte von den jüdischen Gefangenen, die heiligen Lieder des Tempels zu seiner Belustigung zu singen – und wurde noch in der Nacht seines berühmten Gastmahls von Knechten ermordet. Damit erfüllte sich der Fluch des Psalms 137.
Dieser Psalm – Al naharot Bavel – ist in der Vertonung Rossis eine sehr deskriptive Komposition jüdischer Verzweiflung im Exil am Euphrat, der Erinnerung an Zion und den Tempel zu Jerusalem, der Weigerung, für die Babylonier die Lieder des Herrn zu singen, der Drohung furchtbarer Vergeltung und des Niedergangs Babylons – und am Schluss,wie gesagt, ein ganz gewaltiger Fluch.

Holzschnitt aus der Schedelschen Weltchronik (Nürnberg, 1493)

Rembrandt van Rijn (1635)

Steven DuBois, CC BY-SA 2.0, via Wikimedia Commons
Wir schließen unsere Rossi-Auswahl mit einem weiteren zentralen Gebet des Judentums, dem Kaddish. Es ist ein aramäisches Heiligungsgebet, das keineswegs nur mit Trauer und Tod assoziiert ist, obwohl es auch zum Totengedenken und am Grab gesprochen wird. Eigentlich darf es gemäß der Halacha nur rezitiert werden, wenn ein Quorum von zehn oder mehr erwachsenen männlichen Juden – ein Minjan – anwesend ist.
Überraschenderweise ist diese Komposition ein strophisches „Balletto“ im tänzerisch-beschwingten Dreiertakt und damit ein Unikum in Rossis geistlicher Musik. Sie ahnen wahrscheinlich, wie weit er sich damit gegenüber der Orthodoxie aus dem Fenster gelehnt hat.
Wir widmen diesen Kaddish dem Gedenken all derer, die bei den Novemberpogromen 1938 und der Shoah ihr Leben verloren haben – Juden wie Nichtjuden, und den jüngsten Opfern von Hamas und IDF in Israel und Palästina. Natürlich auch den leider etwas in den Hintergrund geratenen Toten im Krieg Russlands gegen die Ukraine, die inzwischen weit in die Hunderttausende gehen.
Bitte schließen Sie sich unserem Gedenken an und übernehmen Sie als Gemeinde das Amen, immer dann, wenn vom Chor die Einladung kommt:
ve imru amen – sprecht: amen, oder
sh’mei d’kudsha b’rech hu – Gepriesen sei der Name des Herrn, gelobt sei er.
Wir üben das nachher einmal kurz, es ist ganz einfach.
Wir wenden uns dem Hohelied Salomos zu, einer der eindrucksvollsten Sammlungen früher altorientalischer Liebeslyrik und dem verwirrendsten Buch der Bibel, weil es ein Loblied ist auf die Körperlichkeit und Freiheit in der Liebe.
Die Sprache ist zuweilen außergewöhnlich, und eine moderne Frau müsste sich wahrscheinlich erst daran gewöhnen, mit einem Pferdegespann verglichen zu werden (wie in der Vertonung von Leonhard Lechner, die Sie nachher hören) – und das auch noch als Kompliment zu verstehen. Aber nicht zu vergessen:
Wir reden über die Dichtkunst der frühen Eisenzeit, mehr als 3000 Jahre vor uns. Abgesehen von dem noch weit älteren babylonischen Gilgamesch-Epos haben wir heute kaum noch derart hochwertige literarische Zeugnisse aus derart grauer Vorzeit.
Wir erinnern uns: Salomo war die Frucht einer ehebrecherischen Beziehung König Davids mit BatSheba, die er beim Baden beobachtet hatte. Sie kennen die Geschichte aus dem 2. Buch Samuel …
Salomos genetische Ausstattung für die Liebe scheint außergewöhnlich – die Zahl seiner Frauen ist legendär, laut dem Buch der Könige vierstellig.
Möglicherweise musste aber auch nur der ungefähr 300 Jahre ältere Pharao Amenhotep III narrativ übertrumpft werden. Ihm wurden auch schon 1000 Frauen nachgesagt. Immerhin hat man inzwischen 50 von diesen 1000 in einem Grab entdeckt. Wahrscheinlich jedoch steht die Zahl Tausend einfach stellvertretend für „sehr viele“.
Darüberhinaus bescheinigt ihm das Buch der Könige übergroße Weisheit, und er hat derselben Quelle zufolge den Tempel JHWHs auf dem Jerusalemer Tempelberg gebaut.

Hans Burgkmair (1516)

Egon Tschirch (1923), CC BY-SA 3.0 DE, via Wikimedia Commons
Für heute haben wir vier Hohelied-Vertonungen für Sie ausgesucht:
Von Leone Leoni, Priester und Kapellmeister am Dom zu Vicenza ein dreistimmiges „Vulnerasti cor meum“, danach eine fünfstimmige Vertonung des selben Texts von Johannes Schultz aus Lüneburg, über den wir nur wissen, dass er eine Organistenstelle in Dannenberg/Elbe innehatte und in Fürst August von Wolfenbüttel einen überzeugten Förderer besaß.
Eine Hohelied-Paraphrase stellen wir Ihnen vor mit „Veni sponsa Christi“ von Luca Marenzio, einem der bedeutendsten Madrigalisten der italienischen Renaissance und Wegbereiter für Monteverdi und den Umbruch zum Barock.
Hier wird das Begehren umgelenkt auf Religiöses, eine Symbolik, die sich in der frühen christlichen wie in der rabbinischen Literatur aus Kommentaren zum Hohenlied als Bild der Vermählung Zions, der Kirche oder auch der Seele mit Gott oder dem Messias gebildet hatte. Das war auch bis zur Aufklärung mit Johann Gottfried Herder und Johann Wolfgang von Goethe die vorherrschende Interpretation des Hohenlieds mit einer allegorischen Überhöhung der Erotik in die Liebe Gottes zu seinem auserwählten Volk respektive zwischen Christus und seiner Kirche.
Leonhard Lechner stammt zwar vermutlich aus dem südtiroler Etschtal, war aber Sängerknabe der bayerischen Hofkapelle zu Landshut und vorher wohl Mitglied der Münchner Hofkapelle. Nach einem Zwischenspiel in Nürnberg wechselte er nach Hechingen an die schwäbische Alb, verkrachte sich mit seinem Dienstherrn, dem Grafen Eitel Friedrich I., wurde entlassen, für vogelfrei erklärt – was bedeutet, jedermann hätte ihn straflos umbringen dürfen – und floh nach Tübingen. Schnell wurde er Tenorist der Württembergischen Hofkapelle in Stuttgart, später Hofkapellmeister dortselbst. Die Stuttgarter Hofkapelle führte er – bis zu seinem Tod – zu ungeahntem Ruhm.
Jiddisch, eine mehr als tausend Jahre alte Kultursprache, die in Deutschland entstand aus früh-mittelalterlichem Deutsch mit hebräischen Einsprengseln, wird nach den damaligen Vertreibungen hauptsächlich noch von orthodoxen aschkenasischen Juden aus Ost- und Mitteleuropa gesprochen (in Brooklyn, in London, und – natürlich – in Mea Shearim).
Galizien und die Bukowina, zeitweise Polen und Böhmen, boten im späten Mittelalter die liberalsten Lebensbedingungen für jüdische Gemeinschaften.
Das sorgte unter Anderem für die Entwicklung der Schtedtl-Kultur in dieser Ecke Europas.
Später dann war man im Zuge des aufkommenden Kameralismus wiederum froh, Juden im durch den 30jährigen Krieg völlig entvölkerten Deutschland ansiedeln zu können – nicht zuletzt als Steuerzahler.
Überhaupt ist ein erklecklicher Anteil mitteleuropäischer Machtpolitik der Neuzeit durch immense jüdische Kapitalströme finanziert worden, selbst im gar nicht so judenfreundlichen Habsburgerreich, denken Sie z.B. an Samson Wertheimer oder Samuel Oppenheimer im Wien des frühen 18. Jahrhunderts.
Das Wort „Jiddisch“ ist ein aus dem Englischen entlehntes Kunstwort, das es im Deutschen eigentlich nicht gibt. Man sprach ursprünglich von „mame-loschn“ – „Muttersprache“. Geschrieben wird es mit hebräischen Buchstaben von rechts nach links, im Gegensatz zu Ladino, dem sephardischen Pendant, das sich des lateinischen Alphabets bedient.
Auf der Suche nach einer Art „Staatssprache“ für den Jischuw in Palästina nach den Einwanderungswellen des frühen 20. Jahrhunderts war Jiddisch eine ernsthafte Option, aber die Ashkenasim, obwohl deutlich in der Mehrheit, konnten sich nicht durchsetzen. So machte sich der russische Jude Eliezer Ben-Jehuda in Jerusalem an die Arbeit und entwickelte aus dem alten sakralen Hebräisch der Thora das moderne Ivrit – in 18 Stunden täglicher Schreibtischarbeit bis an sein Lebensende. In der Schaffung moderner umgangssprachlicher Ausdrücke hat er sich ausführlich bei anderen Sprachen, vor allem bei Russisch und Arabisch (der jüngeren Schwester aus der semitischen Sprachfamilie), aber auch bei Deutsch und Jiddisch bedient.
So kam es, dass für eine lange Zeit die Juden Palästinas ihre neue sog.„Muttersprache“ erst mühsam erlernen mussten. Und sich eigentlich mit den Arabern ganz gut verstehen sollten …
Ben-Jehudas Sohn Ben-Zion war denn auch das erste Kind seit der Antike, dessen ausschließliche Muttersprache Hebräisch war.
Einen Monat vor seinem Tod im Dezember 1922 konnte Ben-Jehuda den ersten Hochkommissar des britischen Völkerbundsmandats für Palästina davon überzeugen, Hebräisch neben Arabisch und Englisch zur offiziellen dritten Amtssprache zu erheben. Da der Viscount Samuel selbst Jude war, war das vielleicht nicht allzu schwer. Heute ist das anders:
Seit Juli 2018 ist Hebräisch per Gesetz die alleinige Amtssprache Israels.
Übrigens: Theodor Herzl aus Budapest, der geistige Vater des politischen Zionismus, war 1896 fest davon überzeugt, dass die Sprache des noch zu gründenden Staates Israel unbedingt Deutsch sein müsse.
Aber die Sache mit dem „Judenstaat“ war ohnehin nur „der Faschingstraum eines verkaterten Feuilletonisten“ – so befand damals Herzls österreichischer Widerpart Anton Bettelheim in den Münchener Allgemeinen Nachrichten.
Wie hat er sich getäuscht …
Aber auch Theodor Herzl hatte sich getäuscht mit der Annahme, dass man niemals auf hebräisch auch nur eine Fahrkarte würde kaufen können.

Fotografie von Ya’ackov Ben-Dov (zwischen 1918 und 1923)

Aber zurück zu Jiddisch, d e r Sprache, die Deutschland nachhaltig mit dem Judentum verbunden hält. Sie hören drei Lieder aus Aschkenas, so das mittelalterliche rabbinische Wort für Deutschland:
In „Mayn Yingele“ beklagt ein Vater, dass er vor lauter Arbeit seinen Sohn nicht aufwachsen sieht (das ist also durchaus kein neuzeitliches Phänomen).
„Rhozinkes mit mandlen“ ist das Schlaflied der Witwe Zion für ihren Sohn – sie bereitet ihn auf eine Zukunft als „Viehjude“ vor – allerdings entwirft sie ihm in den weiteren Strophen, die wir Ihnen heute vorenthalten, doch noch eine rosige und reiche Zukunft als Banker und Eisenbahnmagnat –, und der „Rebbe Elimelech“ will es einmal so richtig krachen lassen, als ihn zunehmend die Fröhlichkeit überkommt – ein typisches Wesensmerkmal chassidischer Zaddikim, so sagt man …
Wir kommen zu neuerer Musik mit jüdischen Hintergründen:
Angelina Figus leitet den Coro Polifonico Claudio Monteverdi in Carbònia auf Sardinien. Sie hat ein kanonisches Arrangement des traditionellen jüdischen Kol rina geschrieben, der Text basiert auf Psalm 118 Vers 15 und kommt in ihrer Version gleichzeitig in allerdings abweichender italienischer Übersetzung vor.
Boaz Avni, israelischer Komponist, Arrangeur, Pianist und Schauspieler, hat sich eine zeitlang mit der Komposition klassischer geistlicher Musik beschäftigt, neben dem Schreiben von Musik für Filme wie „Mr. Baum“ oder „Das Evangelium nach Gott“.
Sein Stück in unserem Programm ist allerdings nicht originär jüdisch: „Lacrimosa“ ist ein Teil des mittelalterlichen Hymnus „Dies irae“ über das jüngste Gericht, seit dem Konzil von Trient fester Bestandteil der katholischen Totenmesse.
Bitte übernehmen Sie hier den begleitenden Orgelpunkt, füllen Sie die Kirche mit leisem Summen …
Und dann Avi Faintoch, den wir auf einer Konzertreise 2018 in Israel kennen lernten: Sohn eines Rabbiners, Organist, Komponist, Leiter von sieben Chören in ganz Israel. Während seiner Armeezeit dirigierte er überdies das Israel Air Force Orchestra, war mit der Musik zum Jom HaAzmaut, dem Unabhängigkeitstag, betraut, ebenso mit der Eröffnung des Weltzionistenkongresses 2001 in Jerusalem, oder der Gan-Shalom-Zeremonie der Vereinten Nationen in New York …
Er ist stolz darauf, das gesamte Buch der Psalmen vertont zu haben.
Psalm 131 haben wir unter seiner Leitung zusammen mit einem seiner Chöre – Kolot Hakfar – damals im Sharon bei einem Chorfestival gesungen, Psalm 92 hat er uns als Abschiedsgeschenk per Mail nachgeschickt.


Zum Schluss Pavel Stetsenko: Geboren in der Ukraine als Sohn einer Architektin und eines Malers, studierte in Kiew Chorleitung und Klavier, bevor er 1990 nach New York zog, um sich mit Kirchenmusik und Orgel auseinanderzusetzen. Im Jahr 2000 erhielt er den Doctor of Musical Arts der renommierten Juilliard School.
Derzeit ist Stetsenko Director of Music Ministries an der Westminster Presbyterian Church in Alexandria, Virginia.
Ein Keloheinu ist ein Heiligungs-Gebet, das Gott als einzigen Gott, einzigen Herrn, einzigen König und einzigen Retter preist.
Aber bevor wir Sie mit diesem Gebet in den Abend entlassen, möchten wir Ihnen unser Spendenkörbchen am Ausgang ans Herz legen. Mit Ihrem Beitrag unterstützen Sie unsere weitere musikalische Arbeit. Und Sie können uns damit wissen lassen, ob Ihnen unser Programm gefallen hat.
Bitte orientieren Sie sich dabei nicht an den Preisen für ein Musicaltheater in Hamburg, für ein Open-Air-Konzert mit Herrn Grönemeier oder für das Festspielhaus in Baden-Baden. Sie erleben hier bei uns – im Gegensatz zu dort – kein beliebig vervielfätigbares Massenprodukt, sondern ein mit Liebe und Leidenschaft gefertigtes Einzelstück in Kleinstauflage.
Auf jeden Fall seien Sie ganz herzlich bedankt für Ihre Großzügigkeit.
Unser Dank gilt natürlich ganz besonders auch dem Kulturamt der Stadt Bruchsal für die Einladung, dieses Programm hier in der Lutherkirche zu singen, der Kirche übrigens, in der ich im vorigen Jahrtausend meine ersten musikalischen Gehversuche gemacht habe. Nicht zuletzt das Altarbild hier bringt mit Wucht viele Erinnerungen zurück. Zum Beispiel an ein Konzert Ende der 1960er Jahre mit der Kantorei der Lutherkirche, Bachs Matthäuspassion. Ich war mit der Gambe Gastsolist des Südfunkorchesters – eine große Chance für mich, und ein wichtiger Meilenstein für meinen späteren beruflichen Werdegang. Dieses Werk hat mich in hunderten von Konzerten durch mein Berufsleben und kreuz und quer über den Globus begleitet, aber das konnte ich damals noch nicht ahnen.
Ein Vierteljahrhundert später wieder eine Matthäuspassion, diesmal in Tel Aviv. Ich war mit der Gambe Gastsolist des Israel Philharmonic Orchestra bei der allerersten Aufführung dieses Werks auf israelischem Boden.
Ein Politikum sondergleichen, denn davor war das Stück dort strengstens verboten, wegen antisemitischer Textstellen des Matthäus-Evangeliums in Luthers Übersetzung, und man musste mit Ausschreitungen rechnen.
Ein weiteres Vierteljahrhundert später stehe ich nun wieder hier in der Lutherkirche in Bruchsal – mit einem Programm jüdischer Musik. So schließt sich für mich ein Kreis in meinem musikalischen Leben, und daher ist das heute ein sehr wichtiges Konzert für mich persönlich. Deswegen geht mein Dank auch an meinen alten Freund aus Kindertagen – Rolf Schmitt, der dem Kulturamt wohl den entscheidenden Hinweis auf unser Programm gegeben hat. Und mein Dank geht an TonArt Kenzingen, dass Ihr mich in meine alte Heimat begleitet.

Martin Kraft, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons
Manches an Hintergrund musste heute aus Zeitgründen verkürzt oder vereinfacht dargestellt werden. Bitte nehmen Sie sich die Freiheit, sich selbst weitergehend zu informieren; jüdische Kultur ist ein ungemein spannendes und kaum zu erschöpfendes Thema. Sie ist jede Beschäftigung wert.
Lesen Sie hin und wieder auch im Alten Testament, auch das lohnt sich.
Es ist die Basis unserer gemeinsamen Überlieferung und voller spannender Geschichten. Zum Beispiel derjenigen von König David und BatSheba aus dem Buch Daniel, oder auch andere im Buch der Könige …
