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Konzerteinführung „schlicht ergreifend – ergreifend schlicht“
Musik – darin werden Sie sicher mit mir übereinstimmen, meine sehr geehrten Damen und Herren – ist Geschmackssache. Und eine solche ist wandelbar, gar der Mode unterworfen. Fraglich ist jedoch, wie sich ein bestimmter Musikgeschmack überhaupt herausbildet, ob jeder Einzelne völlig unbeeinflusst darüber entscheidet, was ihm gefällt. Unsere Weltsicht hat sich stark verändert: Vom geozentrischen über das heliozentrische zum egozentrischen Weltbild der Neuzeit war es ein langer Weg. Aber hat er tatsächlich das Individuum in die Lage versetzt, eigenständig einen eigenen Geschmack zu entwickeln? Oder gab es schon immer – lange vor der Erfindung des Begriffs – Influencer?
Fraglos ist hingegen, dass Musik ganz sicherlich (und möglicherweise unentrinnbar) Einfluss nimmt auf Gemüts- und Seelenzustände des Hörers, diese fördert, verstärkt, oder irritiert.
Schon früh führten diese Erkenntnisse zu der Versuchung, sich verordnend darin einzumischen, was gehört werden durfte/sollte, und was nicht. Die chinesischen Kaiserreiche legten Kammerton und Tonleitern nach kosmischen Prinzipien fest, oder auch nach dem Wechsel der Dynastien. Der Kaiser selbst unternahm lange Kontrollreisen, um zu überprüfen, ob das auch allerorten im Reich korrekt befolgt wurde.
Die griechische Antike unterschied förderliche Tonarten von solchen mit verderblichem Einfluss.
Aristoteles schreibt in Politica:
„Nun gibt es in den Rhythmen und Melodien Ähnlichkeiten mit dem Zorn und der Sanftmut, der Tapferkeit und der Besonnenheit und all ihren Gegensätzen und auch mit den anderen Arten des Ethos, die deren wahrer Natur im höchsten Maße nahe kommen. Das leuchtet aus ihrer Wirkung auf, denn wir verändern uns seelisch, wenn wir so etwas hören.“

Gustav Spangenberg (1828–1891)

Alexej von Jawlensky (1864–1941)
Das 1909 entstandene, später von den Nationalsozialisten als „entartet“ eingestufte Ölgemälde wurde während der 1930er und 1940er Jahre von dem Maler Adolf Erbslöh, einem Freund Jawlenskys, in dessen Haus versteckt.
Naheliegend, dass dieser quasi pädagogische Nutzen der Musik dazu verführt, bestimmte Modi oder Tonarten, wie auch bestimmte Instrumente per Dekret zu fordern, andere hingegen zu verbieten.
Bemerkenswert in unserer Zeit ist auch die Tatsache, dass weder im Fahrstuhl noch im Kaufhaus, beim Zahnarzt oder in der U-Bahn eine zufällige Musikauswahl läuft, sondern dass sie immer irgendwelchen Intentionen folgt, sich auch mit dem Tagesverlauf ändert.
Die katholischen Könige Kastiliens suchten wegen der erotischen Texte das öffentliche Singen von Sarabanden zu unterbinden, und noch im 20. Jahrhundert zog Generalissimus Franco gegen die Zarzuela zu Felde. Die englische Krone schottete sich schon im 16. Jahrhundert durch ihre „splendid isolation“ gegen jeden kulturellen Einfluss aus dem feindlichen Ausland ab, und aus unserem Land wäre der Begriff „entartet“ in diesem Zusammenhang zumindest zu erwähnen.
Unser heutiges Konzert jedoch, zu dem wir Sie ganz herzlich begrüßen, geht der Verbindung zwischen Musik und Frömmigkeit nach, und dem Einfluss, den kirchliche Obere darauf nahmen oder zu nehmen versuchten. Wir beobachten eine Entwicklung vom Hochartifiziell-Elitären hin zum Schlichten und Ergreifenden, von der intellektuell-wissenschaftlichen Theologie zur innigen Volksfrömmigkeit, sowohl auf einem Zeitstrahl von der Hochrenaissance in die späte Romantik, als auch auf einer geografischen Linie vom westlichen Mittelmeer über das Habsburgerreich bis hin zur größten ethnischen Gruppierung Europas, den Slawen.

Barnos, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons

Ernest Walter Histed (1863–1947)
„Die Kirchenmusik muss in höchstem Maße die besonderen Eigenschaften der Liturgie besitzen, nämlich die Heiligkeit und die Güte der Form; daraus erwächst von selbst ein weiteres Merkmal, die Allgemeinheit. Diese Eigenschaften finden sich in höchstem Maße im Gregorianischen Choral, es besitzt sie in vorzüglichem Maße auch die klassische Polyphonie. Eine Kirchenkomposition ist um so heiliger und liturgischer, je mehr sie sich in Verlauf, Eingebung und Geschmack der gregorianischen Melodik nähert; und sie ist umso weniger des Gotteshauses würdig, als sie sich von diesem höchsten Vorbild entfernt.“
Das schrieb Papst Pius X. in einem apostolischen Schreiben am 22. November 1903, und er war damit der Erste von vielen Päpsten, der sich nicht darauf beschränkte, zu formulieren, wie Kirchenmusik nicht sein sollte.
Dennoch kam auch er nicht um Verbote herum: Bemerkenswert für den recht späten Zeitpunkt ist die Untersagung des Einsatzes von Kastraten oder Frauen in der Kirchenmusik. Der letzte Kastratensänger des Vatikans, ein gewisser Alessandro Moreschi, starb 1922 in Rom. Von ihm finden Sie noch verschiedene Tonaufnahmen bei YouTube.
Zuvor schon hatten sich viele Konzilien und Päpste mit dem Wesen und damit mit dem intendierten Effekt von Kirchenmusik beschäftigt. So manche Legende rankt sich um immer wieder drohende Verbote – wie zum Beispiel, dass das Konzil von Trient die polyphone Kirchenmusik untersagen wollte wegen der Unverständlichkeit der Worte, und dass Carlo Borromeo durch die Schönheit von Palestrinas Messkompositionen sich von diesem Verdikt habe abbringen lassen. Hans Pfitzner hat dieser Legende Anfang des 20. Jahrhunderts in einer bemerkenswerten Oper ein Denkmal gesetzt.
Wahr ist an dieser Geschichte allerdings nur, dass die Textverständlichkeit als Haupt-Transportmittel des liturgischen Inhalts immer wieder zum zentralen Diskussionspunkt wurde.
Jedoch erst Martin Luther setzte die eigentlich naheliegende Idee um, dass die Textverständlichkeit schlagartig durch die Übersetzung in die Landessprache gewinnen würde.
Indes blieb die katholische Kirche hartnäckig bis weit ins 20. Jahrhundert hinein bei Latein als Sprache der Liturgie.

Schweizerisches Landesmuseum, Zürich

Michael Wening (1645–1718)
Aber auch hier (im Katholizismus) gab es – vor Allem in Verbindung mit der Komposition des Messordinariums – seit der Klassik Versuche mit deutschem Text. Bekannt geworden und geblieben bis heute sind deutsche Messen von Michael Haydn oder von Franz Schubert.
Wir präsentieren Ihnen nun eine weitere solche von Theodor Grünberger, Augustinermönch der Mozartzeit aus der Oberpfalz. Es handelt sich jedoch bei all diesen Deutschen Messen nicht um Übersetzungen der liturgischen Texte, sondern um freie Nachdichtungen teils recht fragwürdiger Qualität.

Michael Wening (1645–1718)
In Münchsdorf war Grünberger ab 1816 Schlosskaplan.

Civico Museo Bibliografia Musicale, Bologna

Archiv des Grafen Heinrich Marenzi, Wien und Feldkirchen
Wir werden in unser Konzert einsteigen mit hochkomplexen Kompositionen der italienischen Spätrenaissance und des Frühbarock, mit Meistern wie Orlando di Lasso, Luca Marenzio und Claudio Monteverdi.
Letzterer, der ganz entscheidend zum Entstehen der barocken Oper beigetragen hatte, setzte sich übrigens ganz eindeutig darüber hinweg, dass Laszives, Theatralisches, Profanes in der Kirche nichts verloren habe (so schrieb schon Papst Johannes XXII um 1320). Wir präsentieren Ihnen ein Beispiel dafür, dass allein durch lateinische Neutextierung aus einer Opernarie ein geistliches Stück werden konnte.
Das „Lamento d’Arianna“, die Klage der von Theseus verlassenen Ariadne aus der Oper „L’Arianna“, wurde als Kontrafaktur zum „Pianto della Madonna“, der Klage Mariens am Kreuze Jesu.

Bernardo Strozzi (1581–1644)

Bruxelles, Bibl. Royale
Fast gleichzeitig gab es auch in Italien sehr viel einfachere, auf Anhieb verständliche und zu Herzen gehende geistliche Musik, Sie hören Beispiele von Leone Leoni und – etwas später entstanden – Bonaventura Furlanetto. Und mit Letzterem sind wir stilistisch und zeitlich schon direkt in der Mozartzeit gelandet, die wir mit Grünberger und auch Mozart selbst würdigen wollen. Geografisch haben wir uns dabei über die Oberpfalz bereits nach Wien vorgearbeitet, Böhmen liegt um die Ecke.

Museo internazionale e biblioteca della musica, Bologna

Petr Borel (1829–1898)
Wir wenden uns innerhalb des Dreigestirns Wien-Budapest-Prag in die „Goldene Stadt“ und hören mit einer lateinischen Messe von Jan Václav Kalivoda ein Beispiel der Kombination von lateinischem Text und innig-einfacher, direkt zu Herzen gehender Musik. Nicht ohne zuvor mit Dmitri Bortnijanski einen kurzen Blick in die ukrainisch-russische Volksseele geworfen zu haben.

Gustav Schlick (1804–1869)
Auf weiterführende Informationen zu einzelnen Komponisten oder Werken verzichten wir heute, bei Interesse bemühen Sie bitte Wikipedia, Google oder ChatGPT.
Stattdessen versuchen wir ein fast unterbrechungsfreies Konzert aus einem Guss und freuen uns über Ihren Beifall am Ende.
Gerne auch in Form einer Einlage in unser Spendenkörbchen, für die wir uns jetzt schon sehr herzlich bei Ihnen bedanken.
Und nun wünschen wir Ihnen einen erbaulichen Ausflug durch ein paar hundert Jahre geistlicher Musik.
Die Frage allerdings, ob das Schlichte immer ergreifend ist, oder ob nur Schlichtes ergreifend sein kann, lässt sich wohl auch nach diesem Konzert nicht endgültig beantworten.
Ganz sicher wissen wir jedoch, dass „schlicht“ kein Synonym für „anspruchslos“ ist.