Dateien und Beiträge
Programmheft


Jacopo Tintoretto, 1566
Öl auf Leinwand, 536 × 1224 cm
Sala dell’Albergo der Scuola Grande di San Rocco, Venedig
Marias Testament
(Ausschnitte)
von Colm Tóibín
aus dem Englischen von Giovanni und Ditte Bandini
gelesen von Katharina Nast
→ zum Buch auf der Verlagswebsite
Beiträge
Medienecho
- BZ-Plus Grausamkeit mit Musik abbilden [BZ, 03.04.2019]
Konzerteinführung „CRUCIFIXUS“
„Auch für uns wurde er gekreuzigt unter Pontius Pilatus“
Mit einer einzelnen tiefen Bassstimme fängt es an, und dann türmt Antonio Lotti innerhalb von wenigen Takten mit immer mehr Stimmen bis zum Einsatz des höchsten Soprans ein Golgatha von Dissonanzen auf, das den venezianischen Hörern der damaligen Zeit sicherlich Schauer über den Rücken gejagt hat.
Für uns Nachgeborene liegt die Sensibilität viel niedriger und die Reizschwelle für Gänsehaut viel höher, sind wir doch quasi abgehärtet durch unsere Erfahrungen mit Wagner und Bruckner, mit Reger und Mahler, ganz zu schweigen von den Neutönern der Wiener Schule.
Für uns Nachgeborene ist Lottis Musik: schön. Und bildet damit einen irritierenden Gegensatz zum vertonten Sujet. Wir spüren nicht das Erbeben der Erde, das Zerreißen der Felsen, sehen nicht die Gräber sich auftun und die Gebeine der Heiligen auferstehen.

Isenheimer Altar
Matthias Grünewald (ca. 1515)
Txllxt TxllxT, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons

Max Klinger (1883)
Nicht nur mit dem gleichen Thema haben sich Ambrosius Beber und Max Klinger beschäftigt – auch den Bezug zu Naumburg, wo Klinger 1920 starb, teilen sie.
Die wenig bekannte, 1610 entstandene Markus-Passion des ganz unbekannten Naumburger Komponisten Ambrosius Beber beschert uns im Grunde das selbe Dilemma. Eine ungewöhnliche Komposition durchaus: Sie kommt völlig ohne Instrumente aus, nutzt unterschiedliche Chorbesetzungen zur Charakterisierung der handelnden Personen wie Petrus, Judas, Pilatus, die Jünger, die Hohenpriester. Mal zwei-, mal dreistimmig. Der Mob und die Menge des Volks oft fünfstimmig. Nur Jesus ist durchweg vierstimmig komponiert für den ganzen Chor. Auch im Moment größter Verzweiflung und Einsamkeit voller Wohlklang.
Beispiellos ist die rhythmische Prägnanz, mit der die deutsche Sprache umgesetzt wird.
Einstimmig ist der Erzähler der Passionsgeschichte, komponiert in jenem immer um den selben Rezitationston kreisenden psalmodierenden Singsang, der seit den Zeiten Papst Gregors des Großen heimisch geworden ist in der Kirche. Beschwörend ist das, fast könnte man ihm mantrische Qualitäten zuschreiben. Und wie ein Mantra könnte uns diese Melodie einlullen, wäre sie der immer gleichen Stimme zugewiesen, wie vom Komponisten vorgesehen. Um dem entgegenzuwirken, haben wir die Rolle des Chronisten auf den ganzen Chor verteilt. Je nach Situation auf eine einzelne Frauen- oder Männerstimme, singend oder sprechend, oder auf eine ganze Gruppe. So ist jeder von uns aufgerufen, sich zu zeigen, seinen persönlichen Beitrag zu leisten zum Fortgang der Geschichte.
Eine große Herausforderung für einen kleinen Chor …
Vieles wird erzählt von Markus: Die Salbung Jesu durch die Frau in Bethanien, die Vorbereitung des Pessachfests, das Abendmahl, die Verabredung eines neuen Bundes, der Verrat des Judas, die Verzweiflung am Ölberg, die Gefangennahme Jesu, die Verleugnung des Petrus, die Verhandlung vor den Ältesten und Hohenpriestern oder vor Pontius Pilatus, das Würfeln um Jesu Gewand unter dem Kreuz.
Über die Kreuzigung selbst erfahren wir bei allen Evangelisten nur sehr wenig: die Mörder zur Rechten und zur Linken, der Schwamm mit Essig und Galle, oder Wein mit Myrrhe, zuvor noch Simon von Kyrene.
Dann Jesu letzte Worte und sein Sterben, der Lanzenstich des Soldaten.
All das mit nur ganz wenigen Sätzen.

(ca. 950)
Woher beziehen wir dann die allgegenwärtige Bilderwelt der Kreuzigung? Das Bild des Kruzifixus, der uns in jeder Kirche begegnet und in jedem Museum, an vielen Feldwegen und in allen bayerischen Amtsstuben, vielleicht sogar bei Ihnen zu Hause? Wir sehen ihn oft, aber nehmen wir noch wahr, was wir sehen?
Vielleicht ist das ausgereizt im wahrsten Sinne des Wortes der Reizüberflutung unserer medialen Welt.
D a s sind die Bilder, die wir auch kennen: Ein von Napalm verbranntes Mädchen, ein ölverschmierter sterbender Kormoran, vom IS enthauptete koptische Christen, in Guantanamo gefolterte Taliban, von BokoHaram verschleppte und getötete Schulkinder. Bringen w i r noch die Kraft auf für das eigentlich angemessene blanke Entsetzen? Oder reicht es gerade noch für ein leises Bedauern, Reste von Mitleid?

Lessormore, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons
In der Scuola Grande di San Rocco in Venedig hängt eine der bekanntesten Darstellungen der Kreuzigung, ein monumentales Gemälde von Jacopo Robusti, den sie „Tintoretto“ nannten, weil sein Vater Färber war.
Ein in der Tat sehenswertes, ein besonderes Bild.
Aber auch das betrachten wir eher unter kunstgeschichtlichen Aspekten, bewundern die Virtuosität des Pinsels, des Farbauftrags, der Lichtgebung, all der „Manieren“ eben, die Tintoretto berühmt gemacht haben.
Vom „Was“ der Darstellung ist unsere Aufmerksamkeit längst abgeglitten auf das „Wie“.
Einer hat es mit anderen Augen gesehen, hat sich die Gedanken darüber gemacht, die wir alle uns eigentlich machen könnten, die jedoch unsere Behaglichkeit gefährden würden:
Der irische Schriftsteller Colm Tóibín hat sich 2012 von diesem Bild zu einem Roman inspirieren lassen mit dem Titel „Testament of Mary“.
Er geht der Frage nach: Was haben die Ereignisse an jenem „Ort des Schädels“ eigentlich mit der Mutter Jesu gemacht? Wie konnte sie das ertragen, verarbeiten?

Meister des Rimini-Altars (zwischen ca. 1425 und ca. 1435)
Wir setzen mit kurzen Ausschnitten dieses Romans Zäsuren in die Schönheit der Musik.
Wir wollen, dass Sie sich berühren lassen, nein, mehr noch: dass Sie sich verstören lassen von den zwar fiktiven, jedoch irgendwie wahrhaftigen Worten einer Frau, die das Schlimmste erlebt hat, was einer Mutter überhaupt widerfahren kann: dem Martyrium des eigenen Sohnes hilflos zuschauen zu müssen.
Und die keineswegs alleine steht mit dieser Erfahrung, denn bis zum heutigen Tag stehen hunderttausende Mütter bei den Kreuzen ihrer Kinder, überall auf dieser krisengebeutelten und so überhaupt nicht von aller Sünde und aller Schuld erlösten Welt.
Ist das Heilsversprechen der Passionsgeschichte Fiktion?
Die Antwort finden Sie wohl nur in sich selbst.

Karl Schweinsberg, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons
Wir lassen derweilen den Horror des Leidens Jesu zurücktreten hinter den Trost dieses Heilsversprechens:
Hugo Distler beschreibt in seiner 1933 uraufgeführten Choralpassion, die wir Ihnen in Ausschnitten vorstellen, eigentlich nicht das Geschehen auf Golgatha. Eher betrachtet er mit seinen kantigen Klängen die Botschaft der Geschichte und die Folgen. Aber auch er hat es nicht geschafft, die „Geduld in Plage“ von Jesus zu lernen, wie er selbst es vertont hatte: 1942 ging er in den Freitod, ohne sein letztes ehrgeiziges Projekt, ein großes Friedensoratorium, zu vollenden.
Er hatte dem Nationalsozialismus nichts mehr entgegenzusetzen.
Zum Schluss hören Sie zwei Passionsmotetten von Johann Michael Bach, einem entfernten Onkel von Johann Sebastian Bach und dessen erster Schwiegervater (Bach heiratete seine Base Maria Barbara).
Die Motetten entstammen dem so genannten alt-bachischen Archiv, das Johann Ambrosius Bach angelegt hatte, das dessen Sohn Johann Sebastian weiterführte, und das über den Enkel Carl Philipp Emanuel schließlich bei der Berliner Sing-Akademie landete. Während des Zweiten Weltkriegs in ein Schloss in Niederschlesien ausgelagert, verschwand das schon zu Carl Philipp Emanuels Zeiten „etwas mürbe Archiv“ in den Nachkriegswirren spurlos. Erst 1999 wurden die Bestände von dem Bachforscher Christoph Wolff nach langer Suche in der Ukraine, im Staatsarchiv Kiew wiederentdeckt, sozusagen als Beutekunst. 2001 wurde das Archiv von der Ukraine an die Sing-Akademie in Berlin zurückgegeben.
Dass auch Johann Michaels Musik „nur schön“ ist, sei ihr verziehen, denn sie beschäftigt sich ausschließlich mit dem Heilsversprechen und mit dem Trost in der Versöhnung mit Gott.

Skulptur von Josefina de Vasconcellos (1977)
Martinvl, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons
Wir wollen, dass Sie getröstet nach Hause gehen.
Aber wir wollen auch, dass Sie mehr aus diesem Konzert mitnehmen als nur schöne Klänge.